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Das Problem der schweigenden Masse: Bystander Effekt
von redaktion
Eine Organisation, die sich eine Kultur der Vielfalt, Gleichberechtigung und Integration zu eigen macht, hat größere Chancen auf nachhaltigen Erfolg. Allerdings ist dies kein Selbstläufer. Es müssen bestimmte Randbedingungen gegeben sein, damit dieses Potenzial ausgeschöpft werden kann. Doch wie lässt sich am besten eine Arbeitskultur schaffen, in der jede:r, von CEO über die Führungskräfte bis hin zu allen Mitarbeitenden, Vielfalt und Gleichberechtigung anerkennt und fördert? In einer idealen Welt würde Diversität gefeiert und gefördert werden, doch nach wie vor wird Vielfalt an manchen Arbeitsplätzen ignoriert oder abgewertet. Ein wiederkehrendes sozialpsychologisches Phänomen, das auch im professionellen Kontext auftritt und dem Potenzial diverser Unternehmenskulturen entgegenwirkt, ist der Bystander Effekt. Dieser Effekt zeigt sich auch dort, wo ein Eintreten für Diversität und ein aktives Einschreiten gegen Diskriminierung gefordert wäre.
Unter dem Bystander Effekt versteht man das Phänomen, dass Augenzeugen in einer Notfallsituation mit sinkender Wahrscheinlichkeit Hilfeverhalten zeigen, wenn weitere Personen anwesend sind oder hinzukommen. Untersucht wurde dies beispielsweise von Darley und Latané. Ihr Experiment ergab, dass zunehmend weniger Personen in einer vermeintlichen Notsituation helfen, je mehr Bystander anwesend sind. Auch die Zeit, die vergeht, bis sich eine beobachtende Person dazu entscheidet, Hilfe zu holen oder selbst einzugreifen, verlängert sich mit steigender Anzahl an Bystandern.
Das Fünf-Stufenmodell des Hilfeverhaltens nach Latané & Darley (1970) unterscheidet fünf verschiedene Stufen anhand derer sich der Bystander Effekt erklären lässt. Dieses Modell beinhaltet die folgenden Schritte:
1. Wahrnehmung der Situation
2. Interpretation als Notfall
3. Verantwortungsübernahme für Hilfe
4. Einschätzung der Fähigkeiten zum Helfen
5. Initiierung des Hilfeverhaltens
In all diesen Phasen gibt es potenzielle Probleme, die das Auftreten des Bystander Phänomens begünstigen:
Damit einer Person in einer Notsituation geholfen werden kann, müssen die Anwesenden die Situation wahrnehmen und als Notfall interpretieren. Stufe 1, die Wahrnehmung der Situation, kann missglücken, da Andere vom Notfall ablenken könnten. Bei Stufe 2 liegt das potenzielle Problem vor, dass eine Notsituation mehrdeutig sein kann. Oft besteht Unsicherheit, ob es sich dabei um einen Notfall handelt. Die Interpretation ist abhängig von der Klarheit der situativen Hinweisreize. Personen tendieren dazu, in ambivalenten Situationen einen sozialen Vergleich heranzuziehen (Theorie des sozialen Vergleichs nach Festinger, 1954). Aus dem Nicht-Handeln anderer, könnten Beobachtende schließen, dass es sich nicht um eine Notsituation handelt. Dies mündet in pluralistische Ignoranz, in der sich der Bystaner-Effekt äußert: Jede:r schaut auf die anderen, niemand weiß genau, was zu tun ist und letztendlich hilft auch niemand. Somit signalisiert das Umfeld durch Passivität, dass kein Notfall vorliegt.
Die dritte Stufe besteht aus der Übernahme persönlicher Verantwortung. Doch durch die Anwesenheit anderer kommt es zur Verantwortungsdiffusion. Stroebe definiert Verantwortungsdiffusion als die soziale Hemmung des Helfens, die durch ein vermindertes Verantwortungsgefühl einzelner Gruppenmitglieder verursacht wird. Diese „fühlen sich in der Gruppe weniger verpflichtet einzugreifen, als wenn sie allein wären“ (Stroebe, 1997, S. 634).
Studien zeigen, dass das bloße Wissen über die Anwesenheit anderer ausreicht, um den Prozess des Helfens signifikant zu verlangsamen (Darley & Latané, 1968).
In einem vierten Schritt müssen die Anwesenden ihre eigenen Fähigkeiten zur Hilfe einschätzen. Tückisch sind hierbei die Angst, etwas falsch zu machen, die Unsicherheit, was genau zu tun ist sowie die Überzeugung, dass andere besser geeignet seien, um in die Situation einzugreifen. Die Empirie zeigt: Personen mit hohen Fähigkeiten (z.B. Ärzte und Ärztinnen, Polizisten und Polizistinnen, Feuerwehrleute, Personen, die ein Erste-Hilfe-Trainings durchlaufen haben) helfen schneller und häufiger. Hier zeigt sich häufig eine Delegation der Hilfeverantwortung an „kompetentere“ Andere anstatt eines eigenen Eingreifens in die Situation.
Letztendlich erfolgt im fünften Schritt die Entscheidung zum Hilfeverhalten sowie dessen Umsetzung. Doch vor einer Entscheidung wägen Personen häufig potenzielle Kosten und Nutzen des Hilfeverhaltens ab: Kann mir etwas passieren? Kann ich das Problem lösen und ein für alle Mal aus der Welt schaffen? Welchen sozialen Nutzen und welche Kosten kann das Helfen haben? Der Bystander-Effekt zeigt sich hier in einer sogenannten „Audience-Inhibition“. Personen befürchten, vor anderen einen schlechten Eindruck zu machen. Dieses Phänomen wird mit der zunehmenden Anzahl der anwesenden Personen wahrscheinlicher.
Der Bystander-Effekt tritt in jeglichen sozialen Situationen auf und somit auch am Arbeitsplatz. Dabei muss es sich nicht zwingend um akute oder gar lebensbedrohliche Notfälle handeln.
So ist auch das Nichteingreifen bei der Beobachtung von Diskriminierung am Arbeitsplatz eine exemplarische Bystander-Situation.
Was heißt das für Sie?
Als beobachtende Person nehmen Sie in einer solchen Situation eine wichtige Rolle ein. Durch das Eingreifen können Sie das „Opfer“ aus der misslichen Situation befreien und weitere diskriminierende Handlungen unterbinden. Durch das Nichteingreifen hingegen dulden Sie das Verhalten der „Täter:innen“ oder bestärken sie sogar implizit damit. Ebenso kann man zum Bystander werden, indem man bei Kolleginnen und Kollegen Unconscious Bias beobachtet und auch hier nicht eingreift und korrigiert. Die Diskriminierung muss also gar nicht bewusst erfolgen. Bei solchen Situationen kann es sich beispielsweise um Entscheidungen im Rahmen des Recruitments handeln. Neben Ihnen selbst wird dies wohlmöglich auch von weiteren Anwesenden wahrgenommen. Je mehr Anwesende es gibt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie selbst Teil der schweigenden Masse werden.
Doch was können Sie tun, um Stereotypen, Vorurteilen und Unconscious Bias in beobachteten Interaktionen aktiv entgegenzuwirken? Der Active-Bystander-Ansatz des Kirwan-Instituts (L.Tenney, 2017) empfiehlt die folgenden Schritte:
Schritt 1: Erkennen Sie den Bias in der Situation.
Schritt 2: Treffen Sie bewusst die Entscheidung, den beobachteten Bias anzusprechen.
Schritt 3: Nutzen Sie eine der folgenden Handlungsstrategien, um dem Bias entgegenzuwirken:
- Humor
„Deutsch ist meine Muttersprache, was ist Ihre?“ (z.B. als Antwort auf „Ihr Deutsch ist so gut!“) - Gänzliche Ablehnung des Stereotyps
„Ich verstehe den Witz nicht.“ - Fragen, die zu einer Diskussion einladen
„Was meinten Sie damit als sie sagten…?“ - Unbehagen einräumen
„Was Sie gerade gesagt haben, lässt mich unwohl fühlen. Bitte sprechen Sie so nicht mehr in meiner Gegenwart. - Direkte Kommunikation
„Ich weiß, dass Sie nicht beabsichtig haben, dass Ihre Aussage als Stereotyp interpretiert wird, aber als Ihr Kollege / Ihre Kollegin wollte ich ehrlich zu Ihnen sein, weil es so rüberkam."
Schritt 4: Das Gespräch fortsetzen.
Eine Meta-Analyse ergab, dass der Bystander Effekt geringer ist, wenn es sich bei Opfer und Bystander um eine Schicksalsgemeinschaft handelt, ein Entkommen aus der Situation nicht möglich ist, sich Opfer und Bystander kennen oder wenn das Opfer nicht anonym ist (z.B., wenn dessen Name bekannt ist). Auch eine sehr große Gefahr für die hilfebedürftige Person sowie das Innehalten einer sozialen Rolle, die Verantwortung impliziert oder auch das bloße Wissen um den Bystander-Effekt können dazu führen, dass dieser geringer ausfällt.
Ihr Wissen um den Bystander-Effekt und die genannten Strategien sollen Ihnen nun dabei helfen, potenziell anfällige Situationen zu identifizieren und den Bystander-Effekt zu erkennen, falls er Ihnen begegnen sollte. Seien Sie wachsam und gehen Sie den ersten Schritt – idealerweise natürlich auch den fünften.
QUELLEN
Tenney, L. (2017). Being an active bystander: strategies for challenging the emergence of bias. Kirwan Institute for the Study of Race and Ethnicity website. http://kirwaninstitute. osu. edu/wp-content/uploads/2018/07/Being-an-Active-Bystander-2017. pdf. Published.
Stroebe, W. (Hrsg.), 1997: Sozialpsychologie. Berlin u.a.: Springer-Verlag
Darley, J. M., & Latané, B. (1968). Bystander intervention in emergencies: diffusion of responsibility. Journal of personality and social psychology, 8(4p1), 377. https://psycnet.apa.org/doi/10.1037/h0025589
Latané, B., & Darley, J. M. (1970). Social determinants of bystander intervention in emergencies. Altruism and helping behavior, 13-27.
Festinger, L. (1954). A theory of social comparison processes. Human relations, 7(2), 117-140. https://doi.org/10.1177/001872675400700202